Der Futurist: Nürnberger Trichter

Der Futurist: Nürnberger Trichter

Was wäre, wenn es Gehirn-Uploads gäbe?

Der Vorsitzende des Ausschusses für Verbraucherschutz wirkte gelangweilt. „Das ist gut“, dachte John Brooker. „Jetzt ganz ruhig bleiben. Diese Bürokraten verstehen sowieso nicht, wie unser System funktioniert.“

Er setzte sein freundlichstes Behörden-lächeln auf und wandte sich dem Vorsitzenden zu: „Sie hatten noch Fragen zur Opti-Brain-Technologie?“ Der Vorsitzende nickte. „Wir haben eine Menge komplizierter technischer Papiere bekommen. Können Sie mir und meinen Kollegen“, er nickte in Richtung der Beisitzer, „jetzt noch einmal in einfachen Worten erklären, wie Ihr Gerät funktioniert?“

„Wir benutzen ein nicht-invasives Hirn-Interface, um kortikale Muster zu detektieren“, begann Brooker. „Die werden mit Big-Data-Analysen gefiltert und digital gespeichert. Überträgt man diese Muster über ein Hirn-Interface an einen weiteren Probanden, erwirbt der Empfänger neue kognitive Fähigkeiten.“ Der Vorsitzende hob ergeben die Hände. „Wie funktioniert das?“ Brooker lächelte erneut. Jetzt musste er jedes Wort sorgfältig abwägen. Eine neue interne Studie hatte Hinweise auf Nebenwirkungen gezeigt. Der Gehirn-Upload konnte zu Persönlichkeitsveränderungen führen, weil mit ihm auch biografische Erfahrungen übertragen wurden. Dieses Thema durfte auf keinen Fall zur Sprache kommen.

„Die Signale regen das Hirn des Empfängers dazu an, neue Verbindungen zu bilden“, sagte Brooker. „Soll heißen: Er lernt, und zwar viel schneller als gewöhnlich. Zum Beispiel Mandarin oder Hindi. Aber im Grunde genommen ist das auch nichts anderes, als ob Sie sich ein Bild ansehen oder Musik hören.“ Einer der Beisitzer meldete sich: „Was ist mit Strom und Spannung? Ist das gefährlich?“ Brooker schüttelte den Kopf. „Milliampere bei einigen Volt Spannung. Damit tun Sie keiner Maus was zuleide.“ Die Technologie ließe sich problemlos in jedes Virtual-Reality-Headset auf dem Markt integrieren, das per Gedankensteuerung funktioniert. Der Vorsitzende nickte. „Sie werden von uns hören.“ Brooker entspannte sich. Die Sache schien gelaufen.

500 Kilometer entfernt in einem Community-Center von Los Angeles versuchte John Voskrennsky geduldig, Mitglieder für seinen neuen Orden zu gewinnen. Seine Kollegen hatten ihn verspottet, die Universitätsleitung entlassen, aber Voskrennsky war sich ganz sicher: Das Zeitalter der universellen Nächstenliebe war zum Greifen nahe. „Sobald wir die Erfahrungen und Erinnerungen eines Menschen technisch auf einen anderen übertragen können, erzeugen wir grenzenloses Mitgefühl“, sagte er. „Dann wird der Mensch buchstäblich lernen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen.“ Das Publikum blieb skeptisch. Kein Applaus, keine Spenden, keine neuen Mitglieder. Immerhin: Ein junger Mann war nach dem Vortrag geblieben und hatte viele technische Fragen gestellt.

Acht Stunden später ? er hatte Voskrennskys Worte noch genau im Ohr ? begutachtete Jack Stirn noch einmal seinen Code. Das Skript würde die Firewall von Opti-Brain knacken und die Gedächtnisaufzeichnungen jedes Users auf alle Headsets des größten Virtual-Reality-Netzwerks der USA ausspielen. Stirn dachte: „Mal sehen, ob dieser Guru recht hat.“ Dann drückte er die Enter-Taste.

Wenige Minuten darauf setzte Brooker sein Headset ab. Ein kleiner Spaziergang würde ihm jetzt guttun. Er fuhr mit dem Lift nach unten, trat auf die Straße und atmete tief durch. „Hey, Mann, hast du ein bisschen Kleingeld über?“ Ein Obdachloser hatte sich in der Einfahrt angesiedelt. Brooker zog ein dickes Bündel Hunderter aus der Tasche und reichte sie dem Mann. „Hier“, sagte er und lächelte. „Ich weiß, wie man sich in Ihrer Situation fühlt.“ (Wolfgang Stieler) / (bsc)

Dieser Text ist der Zeitschriften-Ausgabe 07/2015 von Technology Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online bestellt werden.

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