Im Aufwind

Im Aufwind

Das Schweizer Start-up Anerdgy hat ein System entwickelt, das Luftströmungen entlang von Gebäuden und Dachkanten energetisch nutzt.

Photovoltaik ist gut, aber simultan Windenergie zu ernten nützt noch mehr. Vor allem, wenn die Sonne nicht scheint“, sagt Sven Köhler, Gründer der Zürcher Firma Anerdgy. Klassische Windanlagen lassen sich aber nicht überall oder nur aufwendig installieren ? etwa auf den meist ungenutzten Dachflächen einer Stadt.

Mit WindRail verspricht Köhler nun die Lösung: Ein rund drei Meter hohes, zwei Meter breites kastenförmiges Gebilde, das Windenergie und Sonneneinstrahlung zugleich nutzt. Doch das wirklich Spannende ist: Es gewinnt weitere Energie aus Luftströmungen, die durch Temperatur- und Druckunterschiede entlang einer Dachkante entstehen.

Technisch basiert das Modul, das dem Aufsatz eines Lüftungsschachts ähnelt, auf dem Prinzip einer sogenannten Venturi-Düse: In einer Röhre mit einer Engstelle erhöht sich die Strömungsgeschwindigkeit einer Flüssigkeit oder auch, wie in diesem Fall, der Luft. Beim WindRail nun strömt der Wind durch einen zweieinhalb Meter langen Kanal und wird gebündelt. „Durch den Druckunterschied zwischen den Bereichen vor und hinter dem Kanal erhöht sich die Windgeschwindigkeit um den Faktor zwei“, erklärt Köhler.

Im Februar 2015 stellte Anerdgy einen Prototyp des WindRail-Systems C30 mit einer Nennleistung von 2,5 Kilowatt auf einem Getreidesilo am Bahnhof Marthalen im Zürcher Weinland auf. Mit den bisherigen Ergebnissen ist Köhler zufrieden: Im Vergleich zu einer freistehenden Turbine mit gleichem Rotordurchmesser erbringt das WindRail-Modul bei optimaler Ausrichtung einen dreifach höheren Energieertrag.

Zu hören ist davon nichts ? auf dem Dach stören nur der gewöhnliche Straßen- und gelegentliche Fluglärm. Allerdings muss ein Gebäude neben dem notwendigen Platz auf dem Flachdach und der Stabilität für das 250 Kilogramm schwere Modul noch weitere Bedingungen erfüllen: „Je höher und massiver ein Gebäude ist, desto höher ist der Druckunterschied an der Dachkante“, sagt Köhler, der bis zur Gründung von Anerdgy 2012 bei Alstom Power tätig war. Etwa sieben Meter müsse ein Gebäude mindestens hoch sein für einen ausgeprägten Druckunterschied.

Der beste Ertrag der Windnutzung ergibt sich bei einer Reihe aus mindestens fünf Modulen, so Köhler. Wenn mehr nebeneinanderstehen, könne der Wind besser geerntet werden, haben Köhler und sein Team in Simulationen herausgefunden. Denn je breiter die WindRail-Front, desto windstiller ist es dahinter und desto größer und stabiler bildet sich der Druckunterschied aus. „Um ein einzelnes Modul kann der Wind einfacher ausweichen“, erläutert Köhler.

Die Stromproduktion eines C30-Systems liegt bei etwa 1500 bis 3000 Kilowattstunden pro Jahr und Anlage ? darin eingeschlossen die Photovoltaikmodule an Vorder- und Rückseite. Laut Köhler könnten bis zu 50 Prozent des Strombedarfs eines Bürogebäudes gedeckt werden, wenn rings um das gesamte Dach WindRail-Module installiert werden.

Billig ist die Lösung jedoch nicht: Für ein C30-System, entwickelt für größere Bürogebäude und Hotels, sind derzeit 5000 Euro fällig. Arno Schlüter, Lehrstuhlinhaber Architektur und Gebäudesysteme an der ETH Zürich, sieht weitere Knackpunkte: „Ältere Dächer sind oft wegen der hohen Dachlast nicht für WindRail-Installationen geeignet.“ Hinzu komme die Herausforderung, den Aufsatz gestalterisch in die Bebauung zu integrieren. „Die Bauvorschriften der Kommunen sind sicher eine harte Nuss für Anerdgy.“

In Zürich etwa dürfen aus der Fassadenfront keine Teile hervorstehen und maximale Gebäudehöhen nicht mit technischen Aufbauten überschritten werden. Regeln aber können sich ändern: Wenn ab 2020 das Niedrigstenergiegebäude in der EU Pflicht wird, dürfte sich die lokale Stromerzeugung zu einem Dauerthema für Bauherren entwickeln. (Tom Sperlich) / (bsc)

Dieser Text ist der Zeitschriften-Ausgabe 12/2015 von Technology Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online bestellt werden.

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