So beeindruckend war die virtuelle Realität noch nie. In Utah können Besucher in vergessenen Tempeln oder düsteren Labors Indiana Jones spielen.
Ich stehe am Rand eines Labyrinths aus grauen Schaumstoffwänden. Zwei Mitarbeiter helfen mir, die Ausrüstung anzulegen. Auf meinen Kopf kommt ein voluminöser Helm mit VR-Brille, Kopfhörer und Gestenscanner; auf meinen Rücken ein Laptop.
Die Helfer treten zurück. Durch mein Headset starre ich auf einen digitalen Abgrund mit blauem Rand. Plötzlich eröffnet sich vor mir, begleitet von elektrischem Knistern, ein endloser Raum. Er gibt den Blick auf einen antiken Tempel frei, versteckt im Dschungel.
Zögernd gehe ich vorwärts und fasse eine der bröckelnden Steinwände an. Sie fühlt sich zwar anders an als erwartet, aber jedenfalls ist sie da. Das ist schon mal beruhigend. An der Wand scheint eine glühende Fackel zu hängen. Ich greife nach ihr und spüre tatsächlich etwas Fackelähnliches. Damit inspiziere ich die Felsgravuren und Statuen in den dunklen Gängen. Irgendwo brennt ein Feuer, und ich kann seine Wärme spüren. Später steige ich auf eine klapprige Plattform, die auf Knopfdruck rumpelnd in die Höhe fährt. Schließlich erblicke ich einen Raum voller glänzender Schätze, aber ärgerlicherweise blockiert ein virtuelles Erdbeben den Weg.
Ich bin wie in Trance, und die vielen Kilogramm an Elektronik, die ich mit mir herumschleppe, sind vergessen. Dabei befinde ich mich immer noch in einem Vorort von Salt Lake City. Hier bringt ein Start-up namens „The Void“ die virtuelle Realität mit echten Wänden, Wind und Wasser zusammen. Auf 30000 Quadratmetern will es in der Nähe einen riesigen VR-Spielplatz errichten, in dem sich Gruppen von sechs bis acht Kunden für je 34 Dollar 20 Minuten lang in 18 mal 18 Meter großen Räumen tummeln können. Weitere Standorte in den USA, Europa, Asien und Australien sind geplant.
Die erste ausgewachsene Void-Welt soll im August oder September eröffnen. Doch schon jetzt lässt das Unternehmen zahlende Gäste in seine Versuchsanlage. Die Schnupperkurse kosten zehn Dollar, dauern sechs bis sieben Minuten und finden in einem nur neun mal neun Meter großen Raum statt. Doch das war mehr als ausreichend, um mich zu fesseln.
Gründer von The Void ist Ken Bretschneider, der zuvor die IT-Sicherheitsfirma DigiCert aufgebaut hat. Zu Halloween verwandelt er sein Privathaus regelmäßig in ein überladenes Geisterschloss. 2012, nach dem Verkauf von DigiCert, wollte er diese Idee auf einen ganzen Steampunk-Themenpark ausweiten. Er hatte schon 160000 Quadratmeter Land gekauft und 14 Millionen Dollar in das Vorhaben gesteckt, als sich abzeichnete, dass es für ihn zu teuer werden würde. Also dachten die Beteiligten um und konzentrierten sich ganz auf die Verbindung von virtueller und echter Realität.
Der erste Prototyp entstand 2014 und kostete etwa 250000 Dollar. Er bestand hauptsächlich aus einer Oculus-Brille und ein paar elektromagnetischen Tracking-Vorrichtungen, um die Position der Nutzer zu verfolgen. Eine drei Meter lange Sperrholzwand musste als Gang eines virtuellen Raumschiffs herhalten. „Das reichte aus, um uns zu überzeugen, dass wir dieses Konzept wirklich umsetzen wollten“, sagt Bretschneider.
Seitdem hat das Team große Fortschritte gemacht. Zusammen mit einer Firma für Produktdesign arbeitet es an einem eigenen Navigationssystem für virtuelle Welten. Dazu gehört etwa ein eigenes Headset mit einem breiteren Blickwinkel oder eine Weste, die das Auftreffen virtueller Kugeln spürbar macht. Batterie und Rechner sollen mit in die Weste wandern. Außerdem entwickelt The Void ein eigenes funkbasiertes Trackingsystem für die Position und die Bewegung der Nutzer.
Bis die eigene Technik fertig ist, greift The Void zu Geräten aus dem Regal: Kopfhörer von Beats, Headsets von Oculus, Bewegungstracker von Leap. Schon diese Ausrüstung funktioniert beeindruckend gut, als ich sie ausprobiere. Der vergessene Tempel wirkt knackig scharf. Bänke, Wände und Absätze der virtuellen Welt fühlen sich echt an.
Damit virtuelle und physische Welt so gut zusammenspielen, arbeiten die Macher mit allerlei Tricks: Rund um die Bühne zieht sich etwa eine gebogene Wand. Sie vermittelt das Gefühl, ewig geradeaus zu gehen, obwohl man in Wirklichkeit im Kreis herumgeführt wird. Der rumpelnde Aufzug in meiner Tempel-Expedition war nur ein kleines Podest, das von Motoren bewegt und gerüttelt wurde. Ventilatoren und Spritzdüsen täuschen einen Wasserfall in der Nähe vor.
So lassen sich in ein und derselben Halle immer wieder neue virtuelle Welten inszenieren. Nach dem Tempel probiere ich einen Ego-Shooter aus. Mit einer großen Spielzeugwaffe muss ich dabei auf fiese mutierte Spinnen schießen und währenddessen nach einem Alien suchen. Insgesamt verbringe ich vielleicht 15 oder 20 Minuten in The Void, doch es kommt mir sehr viel länger vor. „Die Erfahrung ist so immersiv, und man erlebt so viel, dass 20 Minuten fast wie ein ganzer Film wirken“, bestätigt Bretschneider.
Scott Smith, Assistenzprofessor an der University of South California, beschäftigt sich von Berufs wegen mit Hotels, Freizeitanlagen und Themenparks. So etwas Ähnliches wie The Void hat er schon einmal gesehen. Es war 1992 in einem Einkaufszentrum, und die Technik funktionierte schlecht. Seitdem hat sich die virtuelle Realität stark weiterentwickelt ? und mit ihr die Erwartungen der Kunden. Die Leute wollen nicht mehr nur zusehen, sie wollen mitmachen, sagt Smith. Und dazu brauchen sie ein überzeugendes Ziel, eine Aufgabe.
Einfach virtuelle Zombies abzuknallen reiche nicht mehr. „Du brauchst Zombies, die auf dich zukommen, damit dein Herz zu rasen beginnt“, sagt Smith. „Aber du brauchst auch eine Geschichte dahinter ? eine Schatzsuche oder ein Rätsel. Man will schließlich auch Probleme lösen und das Gehirn ein bisschen einsetzen.“ Bei The Void klappt das schon ganz gut. Es gab klare Audio-Anweisungen, die mir sagten, was ich tun sollte. Schließlich möchte niemand viel Geld dafür zahlen, ratlos herumzuirren.
Jedes Quartal sollen neue Szenarien hinzukommen. Einige davon will das Start-up selbst entwickeln, andere steuern eine Videospielfirma und Forscher der University of Utah bei. Und eine Mormonen-Organisation möchte Nutzer gar durch das historische Jerusalem führen.
„Ich kann Sie in ein Multiplayer-Szenario oder in ein Bildungsabenteuer bringen“, sagt Bretschneider. „Ich kann Sie Rätsel lösen oder in einem Film leben lassen. Die Möglichkeiten sind wirklich unbegrenzt.“ (Rachel Metz) / (bsc)
Dieser Text ist der Zeitschriften-Ausgabe 04/2016 von Technology Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online bestellt werden.