Nemanja, der Zweifler

Nemanja, der Zweifler

Ein Doktorand löst seine Identitätskrise, indem er eine neue Forschungsrichtung begründet: Wie kann man Menschen, die nur noch auf ihre Smartphones starren, dazu bringen, im echten Leben wieder miteinander zu reden?

Als Nemanja Memarovic die Zweifel kommen, ist es eigentlich schon fast zu spät. Der junge Informatiker ist ein vielversprechendes Talent, ein junger Forscher auf dem Weg zum Erfolg. Im US-amerikanischen New Hampshire hat der Serbe Fahrerassistenzsysteme erforscht, jetzt lockt ihn eine Doktorandenstelle ins schweizerische Lugano.

Doch die Begeisterung über die allgegenwärtige Digitalisierung wird plötzlich aufgefressen von Zweifeln. Memarovic beobachtet sich selbst ? stellt fest, dass er sein Smartphone nicht mehr weglegt. Wie ferngesteuert entsperrte er es mehrmals in der Minute, ohne zu wissen wieso. Entsperrte und sperrte es wieder, ohne etwas damit zu tun. „Diese Technologie machte irgendetwas mit mir, und ich konnte das nicht steuern“, sagt er. Eine bange Frage wuchs in ihm: „Sind wir zu viel online?“ Er wagte es nicht, sie laut zu stellen. Seine Freunde und Kollegen würden ihn auslachen. Ein Informatiker kämpft gegen das Internet? Wie albern.

Der junge Doktorand soll öffentliche Displays erforschen, elektronische Anzeigen, wie sie zum Beispiel in Bahnstationen zu finden sind. Könnten diese Displays für mehr als nur Werbung benutzt werden? Als Kommunikationsmedium? Wenn ja, für welche Form von Nachrichten? Aber Memarovic stellt auf einmal alles infrage: „Ich soll hier eine neue Technologie entwickeln“, platzt es aus ihm in einer Besprechung mit seinem Doktorvater an der Uni Lugano heraus, „aber wozu brauchen wir die überhaupt?“

Sein Doktorvater schickte ihn nach Hause mit der Aufgabe, sich zu überlegen, was er stattdessen erarbeiten wolle. Nur wo anfangen? Memarovic liest die bisherigen Veröffentlichungen von Kollegen über öffentliche Displays. Die Frage nach dem „wofür“ war nirgends beantwortet. „Es schien gerade so, als ob Wissenschaftler Dinge entwickeln, um hinterher Papiere darüber zu schreiben. Ich wollte aber erst klären, was sinnvoll ist, was die Gesellschaft voranbringt.“

Der junge Forscher erweitert seine Suche, liest alle Arbeiten, die er finden kann, über die Wirkung des Internets auf unser Leben: jene, die postulierten, dass uns das Netz einsam macht, und jene, die genau das Gegenteil herausgefunden hatten. „Beide Stapel waren gleich hoch.“ Irgendwie muss er seinen Blick weiten.

Er liest soziologische und anthropologische Schriften über öffentliche Räume und schließlich die Werke des Medientheoretikers Marshall McLuhan. „The Medium is the Message“ bringt ihn auf die Lösung: Öffentliche Displays dienen dann der Öffentlichkeit, wenn der Einzelne Spuren hinterlassen kann und über sie mit anderen in Kontakt kommt. „So können wir öffentlichen Plätzen ihre Funktion zurückgeben: Menschen zusammenzubringen.“

Sechs Jahre später steht Nemanja Memarovic auf einem der vielen Plätze in Zürich und grinst selbstbewusst in die Wintersonne. In seinem eleganten schwarzen Mantel passt der 33-jährige Postdoc der Uni Zürich scheinbar gut in die Business-Welt, die den Platz in der Mittagspause bevölkert. Nur eines fällt auf: Alle schauen auf ihr Handy. Memarovic sieht sich mit großen, neugierigen Augen all das an, was diese Menschen verpassen: den Fluss Limmat, in dem sich die Sonne spiegelt, eine Kirche, das historische Stadtzentrum.

„Wenn Menschen das Wort ,offline‘ hören, denken sie manchmal, dass ich das Internet abschalten will“, sagt er und lacht. Er ist ja nicht weltfremd. „Aber öffentliche Plätze verlieren viel von ihrem Wert dadurch, dass die Menschen das tun“, sagt er und deutet auf die gesenkten Köpfe. Plätze böten Gelegenheiten, sich zu treffen und etwas über andere zu lernen. Während sie diese Funktion früher automatisch hatten, müsste man den modernen Menschen ein wenig helfen, miteinander in Kontakt zu kommen. Eine Einladung zur Unterhaltung zu entwickeln, das sieht Memarovic als eine der wichtigen Aufgaben für seine Zunft: Technologien sollten nicht die Vereinzelung, sondern das Zusammenkommen fördern.

2012 organisiert Memarovic einen ersten Workshop: „Computer mediated social offline interactions“. Der junge Forscher ist nervös ? ob überhaupt jemand kommt? Aber der Raum wird voll, seine Kollegen überrannten ihn förmlich. Seither kommt keine Konferenz zur Mensch-Computer-Interaktion ohne wenigstens einen dieser Workshops aus, neuerdings sogar meist zwei. Die Verfechter der neuen Bewegung entwickeln Apps und Installationen, die Menschen im realen Leben zusammenbringen sollen.

Gemeinsam mit Informatikern aus Finnland entwickelte Memarovic „FunSquare“, das den Umstehenden auf Displays überraschende Informationen per Zufallsgenerator präsentiert, beispielsweise: „Auf den Pitcairn Islands leben nur fünfmal mehr Menschen als hier heute um das Display herumstehen.“ Der simple Trick funktioniert: Die Forscher beobachteten, wie wildfremde Menschen vor den Bildschirmen miteinander zu diskutieren begannen.

An der Universität Lugano installieren sie die „Moment Machine“, ein großes öffentliches Display, vor dem Studierende oder Besucher posieren und sich von einer eingebauten Kamera fotografieren lassen können. Die Fotos werden lokal und auf Wunsch auch auf Facebook angezeigt. Auch in Lugano nehmen die Menschen die Einladung gern an: Man sehe vor der Moment Machine so viele lachende Menschen, hat ihm einer seiner Interviewpartner der Doktorarbeit gesagt, dass er dort immer hingehe, wenn er traurig sei.

Ganz verschwunden sind die Zweifel von Memarovic aber bis heute nicht: „Wie, du beschäftigst dich mit Sozialwissenschaften?“, fragen ihn Kollegen. „Du argumentierst mit Medientheorie? Du bist kein echter Informatiker.“ Aber seit er mit sich im Reinen ist, weiß Memarovic, wie wichtig es ist, sich aneinander zu reiben. „Wenn dir auf einmal alle zustimmen, dann hast du etwas übersehen“, sagt er. Memarovic schaut sich dann um: nach dem anderen Stapel. Den mit den gegensätzlichen Erkenntnissen. (Eva Wolfangel) / (bsc)

Dieser Text ist der Zeitschriften-Ausgabe 04/2016 von Technology Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online bestellt werden.

Link Startseite